Fragen und Antworten zu den Urteilen des Verfassungsgerichtshofs zur 2,5 %-Sperrklausel für Kommunalwahlen vom 21. November 2017 (VerfGH 9, 11, 15, 16, 17, 18, 21/16)
1. Um welche Vorschriften geht es?
Durch das Kommunalvertretungsstärkungsgesetz vom 14. Juni 2016 (Gesetz- und Verordnungsblatt NRW 2016, S. 442) wurde in Art. 78 Abs. 1 der Landesverfassung ein neuer Satz 3 eingefügt. Die Bestimmung lautet: „Wahlvorschläge, nach deren Ergebnis sich die Sitzanteile in den Räten der Gemeinden, den Bezirksvertretungen, den Kreistagen und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr bestimmen, werden nur berücksichtigt, wenn sie mindestens 2,5 vom Hundert der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben.“
Weitere Einzelheiten wurden in § 33 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 des Kommunalwahlgesetzes geregelt.
2. Für welche Wahlen gilt die 2,5 %-Sperrklausel?
Die Sperrklausel gilt für die in Art. 78 Abs. 1 Satz 3 der Landesverfassung genannten Kommunalwahlen. Das sind die Wahlen der Gemeinderäte, Bezirksvertretungen, Kreistage und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr.
Die Gemeinderäte und Kreistage sind die Volksvertretungen der gesamten Bürgerschaft der jeweiligen Gemeinde bzw. des jeweiligen Kreises. Ihre Mitglieder werden von den Bürgerinnen und Bürgern auf die Dauer von fünf Jahren gewählt.
Die Bezirksvertretungen sind die Vertretungen der Bürgerinnen und Bürger des jeweiligen Stadtbezirks. Die kreisfreien Städte sind verpflichtet, das gesamte Stadtgebiet in Stadtbezirke aufzuteilen. Für jeden Stadtbezirk ist eine Bezirksvertretung zu wählen, deren Mitglieder für die Dauer von fünf Jahren gewählt werden. Die Bezirksvertretungen entscheiden in allen Angelegenheiten, deren Bedeutung nicht wesentlich über den Stadtbezirk hinausgeht.
Der Regionalverband Ruhr ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit dem Recht der Selbstverwaltung in einem gesetzlich umschriebenen Aufgabenbereich. Er ist ein von insgesamt 15 kreisfreien Städten und Kreisen gebildeter Gemeindeverband und dient dem Gemeinwohl der Metropole Ruhr. Die Mitglieder der Verbandsversammlung werden von den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedskörperschaften für die Dauer von fünf Jahren am Tag der allgemeinen Kommunalwahlen gewählt.
3. Gibt es vergleichbare Regelungen in anderen Bundesländern?
Sperrklauseln auf kommunaler Ebene sind inzwischen in allen Bundesländern abgeschafft worden, teils – so wie bislang in Nordrhein-Westfalen (vgl. Frage 5) – nachdem Verfassungsgerichte entsprechende Regelungen für verfassungswidrig erklärt hatten.
Lediglich in Berlin und Hamburg existieren verfassungsunmittelbare 3 %-Sperrklauseln für die Wahlen der Bezirksverordnetenversammlung bzw. Bezirksversammlungen, die von den jeweiligen Landesverfassungsgerichten als verfassungskonform bewertet worden sind.
4. Warum entscheidet der Verfassungsgerichtshof und nicht das Bundesverfassungsgericht?
Weil es sich um Organstreitverfahren auf Landesebene handelt, für die in der föderalen Ordnung des Grundgesetzes das jeweilige Landesverfassungsgericht ausschließlich zuständig ist. In Nordrhein-Westfalen ist das der Verfassungsgerichtshof.
Politische Parteien können eine Verletzung ihres Rechts auf chancengleiche Teilnahme an Wahlen in einem Bundesland nur in einem Organstreitverfahren geltend machen, das sie vor dem jeweiligen Landesverfassungsgericht zu führen haben, welches über diesen Organstreit abschließend entscheidet. Kommt es für die Entscheidung auf die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit der Landesverfassung an, ist auch für die Klärung dieser Frage das Landesverfassungsgericht das allein zuständige Gericht.
5. Ist es das erste Mal, dass sich der Verfassungsgerichtshof mit einer Sperrklausel befasst?
Nein. Zuletzt hatte der Verfassungsgerichtshof im Jahr 1999 entschieden, dass die damals im Kommunalwahlgesetz – also in einem einfachen Gesetz, nicht in der Landesverfassung – geregelte 5 %-Sperrklausel verfassungswidrig war, weil der Gesetzgeber ihre Erforderlichkeit nicht hinreichend begründet hatte. Daraufhin hat der Gesetzger diese Sperrklausel ersatzlos gestrichen. Seitdem haben vier Kommunalwahlen ohne Sperrklausel stattgefunden.
6. Warum ist die 2,5 %-Sperrklausel teilweise verfassungswidrig?
Der Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass die 2,5 %-Sperrklausel gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstößt, soweit sie für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage gilt. Demgegenüber stehe sie im Einklang mit der Landesverfassung, soweit sie für die Wahlen der Bezirksvertretungen und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr gilt.
Die 2,5 %-Sperrklausel bewirke eine Ungleichbehandlung, da Stimmen für solche Parteien und Wählervereinigungen, die an der 2,5 %-Hürde scheiterten, ohne Einfluss auf die Sitzverteilung blieben.
Diese Ungleichbehandlung sei bei Gemeinderats- und Kreistagswahlen unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt. Insoweit ergäben sich aus Landesverfassung und Grundgesetz strenge Anforderungen an differenzierende Regelungen. Das gelte auch dann, wenn der Gesetzgeber – wie hier geschehen – die Sperrklausel unmittelbar in der Landesverfassung regele. Er habe insoweit keinen größeren Gestaltungsspielraum als bei einer Regelung durch einfaches Gesetz. Der Gesetzgeber habe nicht in der gebotenen Weise deutlich gemacht, dass die 2,5 %-Sperrklausel zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinderäte und Kreistage erforderlich ist.
Weniger strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterlägen differenzierende Regelungen bei den Wahlen der Bezirksvertretungen und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr. Insoweit sei verfassungsrechtlich lediglich der auch auf Bundesebene unabänderliche Kern des Demokratieprinzips gewährleistet. Dieser werde durch die 2,5 %-Sperrklausel nicht berührt.
7. Gibt es ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs?
Nein. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet in Organstreitverfahren abschließend (vgl. Frage 4).
8. Welche Folgen haben die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs?
Die Urteile des Verfassungsgerichtshofs in den Organstreitverfahren haben feststellenden Charakter. Der Verfassungsgerichtshof war aus prozessualen Gründen nicht berechtigt, die umstrittenen Vorschriften teilweise für nichtig zu erklären. Seine Entscheidungen binden jedoch die Verfassungsorgane des Landes sowie alle Gerichte und Behörden und haben Gesetzeskraft (§ 26 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen).
Der Landtag wird deshalb rechtzeitig vor den nächsten Kommunalwahlen im Herbst 2020 über eine Aufhebung der umstrittenen Vorschriften zu entscheiden haben, soweit sie nach Einschätzung des Verfassungsgerichtshofs verfassungswidrig sind.
9. Könnte der Landtag an der 2,5 %-Sperrklausel insgesamt festhalten bzw. erneut eine Sperrklausel auch für Gemeinderats- und Kreistagswahlen einführen?
Da der Verfassungsgerichtshof seine Entscheidungen darauf gestützt hat, dass der Gesetzgeber seine Prognose drohender Funktionsstörungen der Gemeinderäte- und Kreistage nicht hinreichend begründet habe, ist es prinzipiell denkbar, dass der Landtag nach erneuter Befassung auf der Grundlage einer neuen und tragfähigen Begründung an der Sperrklausel festhält.
Im Übrigen haben sowohl der Verfassungsgerichtshof als auch das Bundesverfasungsgericht entschieden, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Sperrklausel kann mit Blick auf eine Volksvertretung zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht. Deshalb könnte der Landtag jedenfalls in Zukunft zu der Einschätzung gelangen, dass wegen veränderter Umstände eine Sperrklausel nunmehr gerechtfertigt sei.
10. Lässt sich aus den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs schließen, dass die 5 %-Sperrklausel bei Landtagswahlen verfassungswidrig ist?
Nein. Der Verfassungsgerichtshof hatte ausschließlich über die Verfassungsmäßigkeit der 2,5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen zu befinden. In den Urteilsgründen hebt der Verfassungsgerichtshof in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervor: Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit einer zu wählenden Volksvertretung dient und dafür erforderlich ist, könne nicht für alle Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden, sondern orientiere sich nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs. Zudem komme es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung arbeite und von denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen abhänge.
So hat etwa das Bundesverfassungsgericht Sperrklauseln bei Kommunal- und Europawahlen als verfassungswidrig erachtet, während es die 5 %-Sperrklausel bei Bundestagswahlen in ständiger Rechtsprechung für verfassungsgemäß hält.