Interview des Präsidenten des VerfGH NRW mit der ddp Nachrichtenagentur - vollständige Fassung
Frage 1
Zuletzt schlug die Diskussion um die Fünf-Prozent-Hürde im kommunalen Bereich einige Wellen. Hat sich die neue Regelung aus Ihrer Sicht nach dem ersten "Praxistest" bewährt?
Antwort:
Die Abschaffung der Fünf-Prozent-Klausel im nordrhein-west-fälischen Kommunalwahlrecht ist eine originäre Entscheidung des Landtags Nordrhein-Westfalen und keine Maßnahme des Verfassungsgerichtshofs. Schon aus diesem Grunde - aber auch mit Blick auf etwaige verfassungsgerichtliche Folgeverfahren zum nordrhein-westfälischen Wahlrecht - verbietet es sich für den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, die Neuregelung und ihre Bewährung in der Praxis zu kommentieren. Dies muß zunächst der Politik vorbehalten bleiben.
Frage 2
In der Regel fällt die Arbeit des VerfGH in der Öffentlichkeit wenig auf. Woran liegt's? An den Medien? Oder sind Sie so "leise"?
Antwort:
Die Arbeit des Verfassungsgerichtshofs und seines Präsidenten vollzieht sich im Allgemeinen fernab der Öffentlichkeit im Stillen, sieht man einmal von den öffentlichen Sitzungen des Gerichts ab. Ein Landesverfassungsgericht hat - so gesehen - nichts Spektakuläres. Spektakulär sind jedoch mitunter seine Verfahren und Entscheidungen, zumal dann, wenn sie in den Bereich des Politischen hineinwirken. So sind z.B. die Verfahren zu Garzweiler II, zur Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium oder zur 5 %-Klausel von den Medien landes- wie bundesweit sehr intensiv und nachhaltig wahrgenommen worden. Der Verfassungsgerichtshof ist m.a.W. in der Öffentlichkeit so präsent wie die Streitgegenstände, über die er zu befinden hat.
Frage 3
Welchen Stellenwert haben die Landesverfassungen in der deutschen Rechtsordnung? Kennen die Bürger diesen Stellenwert?
Antwort:
Landesverfassungen - und die zu ihren Hütern bestellten Landesverfassungsgerichte - sind notwendige Attribute der Eigenstaatlichkeit der Länder und von daher Elemente des föderalen Systems. Den wenigsten Bürgern ist dies so bekannt. Allerdings wissen infolge der intensiven Medienberichterstattung der letzten Jahre immer mehr Bürgerinnen und Bürger um die Existenz einer nordrhein-westfälischen Landesverfassung - und um die Existenz eines Verfassungsgerichtshofs in Münster, dessen Entscheidungen für unser Land und seine Politik mitunter weitreichende Konsequenzen haben.
Frage 4
Was bedeutet die zunehmende Europäisierung für die Landesverfassungen? Sind sie dadurch, dass immer mehr zentralisiert wird, nicht langfristig gefährdet?
Antwort:
Die zunehmende Europäisierung nimmt den Länder zwar nicht ihre Eigenstaatlichkeit, sie bedeutet jedoch eine zunehmende Einbuße an Souveränität. Das gilt übrigens nicht nur für die Länder, sondern auch für den Bund. M.a.W.: Je weiter die Europäisierung im Sinne einer Kompetenzverlagerung auf europäische Entscheidungsträger - etwa die Kommission in Brüssel oder den Europäischen Gerichtshof - voranschreitet, um so größer sind zwangsläufig die innerstaatlichen Kompetenzverluste. Ob und inwieweit der Prozess der Europäisierung auch die Verfassungen des Bundes und der Länder und die jeweilige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung tangiert, gehört zu den weitgehend ungeklärten schwierigen Fragen des europäischen Einigungsprozesses. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Waffendienst von Frauen in der Bundeswehr ausgelöste Diskussion.
Frage 5
Lernen die Schüler nicht zu wenig über "ihre" Landesverfassung? Nach meinem Eindruck spielen Landesverfassungen etwa im Sozialkundeunterricht keine Rolle - im Gegensatz zum Grundgesetz.
Antwort:
Leider ist nicht nur die Landesverfassung, sondern auch das Grundgesetz weitgehend unbekannt, und leider ist diese Unkenntnis nicht nur auf Schülerinnen und Schüler beschränkt. Selbst viele Hochschulabsolventen sind heutzutage nur sehr unzulänglich mit den Grundzügen unserer Verfassung vertraut. Diese Grundzüge sollte man am Ende der Schulzeit eigentlich kennen; man sollte jedenfalls eine Vorstellung vom Aufbau unserer staatlichen Ordnung haben und z.B. mit den Stichworten "Bund", "Länder", "Gemeinden", "Demokratie", "Rechtsstaat" und "Gewal-tenteilung" etwas anfangen können. Nicht zuletzt sollten - zumindest in groben Umrissen - die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte bekannt sein, die übrigens alle Bestandteil der nordrhein-westfälischen Landesverfassung sind.
Frage 6
Welche Möglichkeiten hat der VerfGH, für sich zu "werben"?
Antwort:
Keine, soweit es um Werbung im Sinne von Reklame geht. Die braucht er nicht, denn seine "Kundschaft" ist auch ohne Werbung reichlich vorhanden. Der Verfassungsgerichtshof, dessen Entscheidungen im Namen des Volkes ergehen, hat im übrigen die Möglichkeit, sich um Akzeptanz zu bemühen. Dies bedeutet keine populistische Anbiederung, kein Schielen nach Zuspruch. Dies bedeutet Bemühen um zügige Verfahren, um Verständlichkeit, um Transparenz, um ein nachvollziehbares Darlegen der für und wider eine Entscheidung sprechenden Gründe. So gesehen kann der Verfassungsgerichtshof für sich "werben", indem er schnelle, kluge und überzeugende Entscheidungen trifft.
Frage 7
Wie "politisch" ist der VerfGH? Besteht die Gefahr, dass er ähnlich wie das BVerfG zu politisch wird und Dinge zu detailliert regelt?
Antwort:
Politik im Sinne von Parteipolitik hat im Verfassungsgerichtshof - wie überhaupt in der Rechtsprechung - nichts zu suchen. Der Verfassungsgerichtshof ist im übrigen so politisch wie die Gegenstände, über die er zu entscheiden hat. Das heißt: In Verfahren mit politischen Streitgegenständen wirken die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zwangsläufig in den Bereich des Politischen hinein. Deshalb muß der Verfassungsgerichtshof hier der Versuchung widerstehen, unter Überschreitung der ihm gesetzten Grenzen politische Entscheidungen zu treffen, also nicht ausschließlich am Maßstab der Verfassung zu urteilen, sondern selbst politisch zu gestalten. Diese gebotene Zurückhaltung ist dem Verfassungsgerichtshof bisher - wie ich meine - gelungen. Die Grenzziehung zwischen Recht und Politik, zwischen gerichtlicher Kontrolle und politischer Gestaltung ist allerdings - wie die jahrzehntelange Diskussion um die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zeigt - mitunter recht schwierig und wird von den Verfahrensbeteiligten - je nach Vorverständnis und Verfahrensausgang - oftmals sehr unterschiedlich gesehen.
Frage 8
Gibt es aktuell anstehende Entscheidungen, die für die Öffentlichkeit von Interesse sind / sein sollten?
Antwort:
Der Verfassungsgerichtshof wird am 25. Januar 2000 sein Urteil zum nordrhein-westfälischen Universitätsgesetz verkünden. Darin geht es um die sog. Forschungsfolgenverantwortung der Hochschulen und um Fragen des allgemeinpolitischen Mandats der Studierendenschaft. Im Laufe des Jahres stehen ferner u.a. Verfahren zum Flüchtlingsaufnahmegesetz und zum HDO-Untersuchungsausschuss auf dem Programm.